Ahmet Tulgar – Treffpunkt https://blogs.dw.com/treffpunkt Vier Kulturschaffende aus Deutschland und der Türkei schreiben über verschiedene Aspekte ihres kulturellen Umfelds Tue, 11 Dec 2012 09:23:30 +0000 de-DE hourly 1 Architektur und Geschichtsbewusstsein https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/25/architektur-und-geschichtsbewusstsein/ Thu, 25 Oct 2012 14:35:27 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=611 Die historische Architektur einer Stadt offenbart viel über die Geschichte eines Landes. Das ist ein Fakt. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn die historischen Bäder und Zisternen nicht durch Bürogebäude oder Parkhäuser verdeckt werden, wie das in Istanbuls historischem Stadtteil Eminönü geschehen ist. Dort wurden hunderte von historischen Gebäuden zugebaut.

Die Architektur der historischen Halbinsel von Istanbul, einzelne Gebäude oder Gebäudefassaden in verschiedenen Stadtteilen erinnern uns jedoch an eine weit zurückliegende Vergangenheit. Sie geben zumindest etwas Aufschluss über die Geschichte. Jedenfalls zeugt die Mehrheit der historischen Gebäude in Istanbul von der Pracht Herrschenden. Sie sind sichtbarer Ausdruck ihrer Macht. Es gibt allerdings keine Gebäude, die auf die Geschichte der Arbeiterbewegung oder andere oppositionelle Bewegungen hindeuten.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich Berlin gravierend von Istanbul. Sobald man bestimmte Stadtteile von Berlin betritt, lässt sich allein durch die Architektur der Wohnhäuser vieles über die Vergangenheit der Stadt herausfinden. Über die Betrachtung dieser Wohnkomplexe kann der Besucher etwas über die lange und bewegte Arbeitergeschichte erfahren. Er kann sich vorstellen, welch harter Klassenkampf sich hier ereignete. All diese Hinweise lassen sich an der Architektur der Arbeiterviertel ablesen – insbesondere an den Massenwohnungen der Genossenschaften, die von Gewerkschaften oder Beamtenbündnissen verwaltet werden beziehungsweise von ihnen errichtet wurden.

Diese Gebäude in Berlin spiegeln das Ästhetikverständnis der Arbeiterklasse wider. Sie verbinden die soziale Ästhetik mit der manchmal auch futuristischen Vision des 20. Jahrhunderts. An den meisten Gebäuden befinden sich Inschriften oder Informationen über die damaligen Organisationen der jeweiligen Klassen- oder Oppositionsbewegungen.

Wenn man sich diese Gebäude anschaut, erinnert man sich an die damalige Solidarität unter den Klassen. An diesen Gebäuden lässt sich erkennen, welche Macht die Bewegung der Arbeiterklasse besaß und welche Errungenschaften gefeiert wurden.

Kann man bei uns in Istanbul solche Gebäude entdecken? Gibt es sie? Wann wurden sie erbaut? Wann wurden sie abgerissen? Der Betrachter sieht hier nichts anderes als die rein funktionalen sozialen Wohnungen, von denen eine geschmackloser ist als die andere. Statt besagter Gebäude gibt es zahlreiche neumodische, nebeneinander platzierte Wohnblöcke, die mit Bankkrediten finanziert werden. Diese Wohnungen sind Produkte einer Gesellschaft, die zerbröckelt und in der Personen vereinsamen. Wo sind denn die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, die Ästhetik der Solidarität sichtbar? Ähnlich wie in Berlin könnte der Einfluss der Arbeiterbewegung oder der Opposition auch hier aussehen – mit einer Strahlkraft auf das alltägliche Leben.

Dann hätte der Arbeiterkampf weitreichende Errungenschaften gehabt und seine Gewinne kämen allen zugute. Die Architektur von Wohnhäusern für die Arbeiterklasse verschönert eine ganze Stadt, hinterlässt den kommenden Generationen Lebensräume, in denen die Zeichen der Zeit, der Respekt vor der Demokratie und eine gesamtgesellschaftliche Geschichtsbewusstsein vererbt werden. So wie in Berlin oder in Wien. So wie in vielen Städten Mitteleuropas.

Vielleicht sind viele Studenten, Künstler oder Politiker, die in diese Wohnungen einziehen, deswegen so kritisch und oppositionell. Umgekehrt spiegelt sich im Bild der Wohnsitze bei uns in Istanbul – abgesehen von wenigen Ausnahmen – der egoistische Leichtsinn der Reichen und die Suche der mittleren oder unteren Klasse nach einer Bleibe wider.

Wir hatten in unserer Geschichte ebenso eine starke Arbeiterbewegung und eine linke Opposition, aber keiner dieser Generationen war es vergönnt, ihre Spuren so deutlich wie bei den Gebäuden in Berlin zu hinterlassen. Das linke Wohnverständnis und das linke Flurbuch beschränkte sich auf die „Übernachthäuser“ – Siedlungen mit primitiven Unterkünften am Rande einer Großstadt.

Zweifellos bin ich auch stolz auf die Süleymaniye Moschee oder auf die Sultan-Ahmet-Moschee. Stolz auf die Silhouette von Istanbul. Mein Haus in Istanbul mag ich auch. Aber wäre es denn nicht schön, Wohnungen mit dem Namen „Mustafa Suphi“ oder Straßen mit den Namen „Hikmet Kıvılcımlı“ zu haben? Das wäre nicht schlecht.

Istanbul wäre eine demokratischere Stadt, die Türkei ein demokratischeres Land.

Die Opposition wäre im alltäglichen Leben zu spüren. Sie könnte immer und immer wieder erinnert werden.

Die Straßen der Stadt würden eines der Realität angemesseneres Geschichtsbewusstsein verbreiten.

Unsere Städte wären ästhetischer.

Die prächtigen Gebäude, die Moscheen oder Paläste würden nicht zwischen den beiden Geschmacklosigkeiten, der Ästhetik des Reichtums und der Ästhetik der Armut, stehen.

Da die Stadtästhetik, das Stadtverständnis demokratischer wären, wären die unbezahlbaren Meisterwerke der Architektur auch nicht so sehr angegriffen.

Die Arbeiterbewegung hat einen großen Nutzen hinsichtlich der Stadtarchitektur.

Glücklicherweise arbeiten hierzulande die Arbeiter noch und sie organisieren sich. Vielleicht werden sie sogar eines Tages auch architektonische Einflüsse auf die Stadt haben. In der Zukunft.

 

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Vom Mitgefühl und der Liebe im Straßenverkehr https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/21/vom-mitgefuhl-und-der-liebe-im-strasenverkehr/ https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/21/vom-mitgefuhl-und-der-liebe-im-strasenverkehr/#comments Sun, 21 Oct 2012 07:28:06 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=521 Einen Tag vor meiner Abreise nach Istanbul sitzen ein Freund und ich in einem Café in der Berliner Oranienstraße und schauen dem Regen zu. In Istanbul war es zu dieser Zeit schon 30 Grad warm. Durch die Fenster beobachten wir die Autos auf den nassen Straßen. Alles fährt und bewegt sich gleichmäßig in einem ruhigen Fluss. Plötzlich gerät der Verkehr ins Stocken. Ein Kleinwagen hat mitten auf der Straße gehalten und hinter ihm staut sich der Verkehr. Vor dem Kleinwagen ist alles frei. Warum hält er? Aus Liebe!

Denn in dem Wagen ganz vorne küssen sich ein junger Mann und eine junge Frau aus der Türkei. Fast könnte man annehmen, dass sie gerade Sex haben. Die Fahrer aus den hinteren Autos tun nichts. Keiner hupt. Keiner schreit aus dem Autofenster. Sie warten. Sie warten, bis die Erregung abnimmt. Vielleicht hört der Regen nicht so schnell auf, aber die Lust wird wohl vergehen. Sie warten. Das junge Paar gibt sich dem Moment der Liebe hin, sie huldigen der Liebe. Hier halten Autofahrer für die Liebe an. Da wir sonst nichts anderes zu tun haben, zählen mein Freund und ich die Minuten. Es sind bereits mehr als fünf Minuten vergangen. Mittlerweile ist der junge Mann aus dem Kleinwagen ausgestiegen, doch das Auto bewegt sich immer noch nicht und der Stau wird immer länger. Als der junge Mann merkt, dass sie nicht weiterfährt, kommt er zurück und beugt sich mit dem halben Körper durch das Fenster ins Auto und schmeißt sich wieder an ihre Lippen. Dann kommt er wieder zum Vorschein, dreht sich um und entfernt sich. Auch der Kleinwagen bewegt sich endlich. Lust und Aufregung vor unserem Café kommen wieder zur Ruhe. Alle Autos setzen sich nun in Bewegung und der Verkehr läuft sofort normal weiter. Es regnet immer noch.

Ich frage mich, wie Autofahrer in der Türkei auf eine ähnliche Situation reagieren würden. Dazu fällt mir ein „typisch türkisches Fahrverhalten“ ein. Um voranzukommen würden sie sofort versuchen den Kleinwagen zu umfahren Die meisten Autofahrer in der Türkei riskieren alles, um andere Autos zu überholen, und mindesten einen Wagenabstand Vorsprung zu bekommen. Dadurch gefährden sie sich nicht nur selbst, sondern auch die anderen Fahrer. Und wozu das Ganze? An der nächsten Brücke, der nächsten Ampel, Stau oder Mautstelle, stehen sie doch alle wieder nebeneinander.

Dieses gefährliche Verhalten der Fahrer im Straßenverkehr ähnelt der Einstellung vieler Bürger zu ihrem Land. Ohne Rücksicht auf Andere, ohne Solidarität mit den eigenen Landsleuten oder Mitmenschen, beutet jeder Jeden aus. Man nutzt die Situation oder die Umstände aus wo man nur kann. Man denkt an den eigenen Vorteil ohne nur einen einzigen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden.

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42 Jahre Stammkunde https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/09/42-jahre-stammkunde/ Tue, 09 Oct 2012 12:51:33 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=467 Ich war elf Jahre alt, als ich das erste Mal durch diese Tür trat. Während meine Mutter an der Kasse bezahlte, wühlte ich mit voller Begeisterung durch die ausgelegten Bücher. Ein alter, freundlicher Mann streichelte meine Haare und gab mir somit das Zeichen einer Freundschaft, die sich in den nächsten Jahren entwickeln sollte. Türk Alman Kitapevi, die türkisch-deutsche Buchhandlung befindet sich auf einer der wichtigsten Straßen in Istanbul, Richtung Tunnel. Sie ist die wichtigste Quelle für deutsche Literatur in dieser Stadt. Diese Buchhandlung sollte für den Rest meines Lebens eine der am häufigsten besuchten Orte für mich werden. Meine Beziehung zu dieser türkisch-deutschen Buchhandlung, die mit dem Kauf von Lehrbüchern begann, beläuft sich mittlerweile auf 42 Jahre. Selbst als ich in Haft war, wurde diese Beziehung nicht unterbrochen.

Das erste belletristische Buch, das Franz Mühlbauer mir schick verpackte, war das Buch „Emil und die Detektive“ von Erich Kästner. Wenn ich nun einen Blick auf meine Bibliothek werfe, stelle ich fest, dass ich die Hälfte meiner Bücher bei Familie Mühlbauer eingekauft habe. Anfangs bei Franz, dann bei Joseph und Thomas Mühlbauer. Fangen wir bei Franz Mühlbauer an. Diesen Mann mit harter Schale und weichem Kern mochte ich sehr.

Er kam als Zirkusmitarbeiter nach Istanbul. Da ihn diese Stadt tief beeindrucke, verabschiedete er sich von seiner Heimat Österreich, die in der Nachkriegszeit mit ökonomischen Problemen zu kämpfen hatte. Anfangs arbeitete er in der Buchhandlung einer alten Dame. Als diese krank wurde, benötigte sie einen Pfleger. Also gaben sie eine Kleinanzeige auf, auf die sich eine junge Frau aus Deutschland meldete. Nach ihrer Ankunft und dem Beginn ihrer Arbeit bei der alten Dame heiraten Franz und Marlene. Sie bekommen drei Kinder. Franz eröffnet die türkisch-deutsche Buchhandlung im Tunnel. Doch im Laufe der Zeit erlebt das Paar Probleme. Marlene und die drei Kinder kehren nach Deutschland zurück. Im Jahre 1991 endet das Leben von Franz Mühlbauer aufgrund eines Herzinfarkts.

Bis 1991 hatten wir Schüler uns viel mit Herrn Mühlbauer unterhalten. Viele Schüler des österreichischen oder deutschen Gymnasiums kamen getrieben durch den Lehrplan in seine Buchhandlung. Doch nicht jeder wurde Stammkunde bei ihm. Herr Mühlbauer wusste, dass die Liebe zu den Büchern oder der Literatur nicht bei jedem nachhaltig war. Er mochte diejenigen Schüler besonders gern, die bei ihm auch nach Schulabschluss Bücher kauften. Dabei hatte er keine kommerziellen Hintergedanken. Das konnte man von seinen Augen ablesen.

Als ich in die Sekundarstufe kam, bestellte ich immer mehr literarische Bücher als Lehrbücher. Als ich anfing zu studieren, kamen parallel zu den damaligen politischen Ereignissen immer mehr sozialkritische, politische oder philosophische Bücher auf meine Bücherliste. Ich bestellte Bücher von Habermas oder Benjamin aus Deutschland. Wenn das Buch ankam, riefen Herr Mühlbauer oder seine Mitarbeiter bei uns an. Ich rannte dann regelrecht in die Buchhandlung auf der Istiklal Straße. Zugegeben, damals sah man in den linken Kreisen, zu denen ich auch gehörte, die Lektüre von theoretischen Büchern nicht so gerne. Jetzt ist es natürlich ganz anders.

Während meines Wehrdienstes stellte ich wöchentlich eine Büchereinkaufsliste zusammen, kaufte diese an meinen freien Tagen bei Herrn Mühlbauer und arbeitete während dieser Zeit als Dolmetscher für deutsche Ingenieure. Als ich sie dann nach Istanbul begleitete, überzeugte ich sie zuerst davon die türkisch-deutsche Buchhandlung zu besuchen, um sie anschließend zu den Teppichläden nach Nuruosmaniye zu fahren.

Als ich in Haft saß, gab ich meine Bücherbestellungen meiner Mutter. Die finanziellen Mittel in der Haft waren natürlich sehr begrenzt und ich konnte die deutsche Literatur nicht tagtäglich verfolgen. Aber gute Literatur ist sowieso zeitlos. Meine Mutter brachte mir alle zwei Wochen die Bücher und übergab sie den Direktoren der Haftanstalt. Diese prüften sie dann, obwohl ich nicht wirklich weiß wie. Nach der Prüfung übergaben sie mir dann nur einen Teil der Bücher. Den Rest habe ich nach meiner Freilassung erhalten.

Nach dem Tod von Herrn Mühlbauer kamen Joseph und Thomas Mühlbauer nach Istanbul, um die Bücherei zu verwalten. Joseph interessierte sich viel mehr für das Meer, sodass Thomas das ganze Geschäft übernahm. Auf diese Weise haben wir uns auch kennengelernt.

Als ich kürzlich mit dem Team der Deutschen Welle in diesem Laden war und zwischen den Regalen spazierte, fielen mir wieder viele Erinnerungen ein. Dieser Laden bedeutet mir unendlich viel. Bei der Gelegenheit ist mir auch etwas aufgefallen: Von allen Büchern von Thomas Mann und Thomas Bernhard, habe ich ein Exemplar in meiner eigenen Bibliothek. Ich musste einfach grinsen.

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Meine zwei Häuser https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/04/meine-zwei-hauser/ Thu, 04 Oct 2012 15:01:24 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=421 Letzte Woche musste ich einige Texte ins Deutsche übersetzen. Das Hin- und Hergehen zwischen meinen zwei Häusern, das Anschauen des einen und das Bauen an dem anderen. Es war sehr schön und bereichernd für mich während dieses Baus zu sehen, was in der anderen Sprache machbar ist. Meine zwei Häuser, meine zwei Sprachen; das Herumspazieren vom Türkischen ins Deutsche, vom Deutschen ins Türkische.

Ja. Ich wohne in zwei Häusern. Man vermisst Sprachen genauso wie sein Haus. Ich vermisse das eine wie das andere. Ich lebe in Istanbul, aber ich muss während des Tages oder in der Nacht unbedingt Deutsch lesen, es schreiben, es sprechen.

Da Deutschland mein zweites Zuhause ist, vermisse ich auch den deutschsprachigen Raum. Deswegen habe ich meine Residenz in Istanbul so eingerichtet und dekoriert. Oder vielleicht hat sich diese Dekoration auch im Laufe der Zeit von sich aus ergeben.

Neben meinem Sofa, auf dem ich liege und meine Bücher lese, meine Decke anstarre oder nachdenke, steht ein Beistelltisch. Auf diesem Tisch stehen Postkarten mit Bildern von Goethe: Er schaut auf die Silhouette von Charlotte, blickt aus dem Fenster, schreibt gebeugt an seinem Tisch. Und daneben sieht man seine Bibliothek.

Und zwischen diesen Postkarten liegen Abbildungen von Thomas Mann, immer wieder mit Bezug zu Goethe. Einmal mit seinem Werk „Lotte in Weimar“, ein anderes Mal als er Deutschland einen Besuch abstattete und 1949 in Frankfurt den Goethepreis entgegennahm. So haben sich beide Schriftsteller immer wieder „getroffen“.

Auf dem Regal meines Schreibtisches ist ein Foto von mir, das Dora in Kreuzberg aufgenommen hat. Direkt daneben steht ein Bilderrahmen aus Deutschland. Monolithisch aus Glas. Egal welche Schublade meines Tisches ich öffne – es liegen darin Hefte und Fotos in Erinnerung an Goethe und Mozart. Auf einigen Fotos bin ich als Kind zu sehen. Zum ersten Mal in Österreich und Deutschland. Wir fahren von Bregenz nach Friedrichshafen.

Auf meinem Tisch liegt ein Buch, das ich dort nie wegnehme: Lexikon der deutschsprachigen Autoren. Die meisten Bücher sind von Heinrich und Thomas Mann. An die Bücher habe ich Karten gelehnt. Auf der einen ist die deutsche Flagge mit der Aufschrift „Wir sind ein Volk“ zu sehen. Auf der anderen Karte küssen sich Honecker und Breschnew. Ich habe mir auch eine DDR-Flagge gekauft.

In zwei Regalen sind Bücher von Thomas Bernhard. Ganz vorne „Amras“. In allen Regalen gibt es deutsche Bücher: Günter Grass, Siegfried Lenz, Bertolt Brecht etc. Dann Walter Benjamin und Jürgen Habermas. In einem Regal steht eine stilvolle Ausgabe von „Die Harzreise“ von Heinrich Heine aus dem Jahre 1920. Auf ein anderes Regalbrett habe ich eine Büste von Immanuel Kant gestellt. Auf wieder ein anderes eine Schachtel aus dem Jahr 1930, die ein Dichter-Quartett enthält. Gleich daneben ein etwas neueres, politisch-historisches Quartett.

Irgendwo habe ich auch noch die Konzertkarten meines Lieblings-Rock-Musikers, Bruce Springsteen. Über die ganzen Jahre habe ich seine Konzerte meistens in Deutschland besucht: in Berlin, Frankfurt, Mannheim, München. Wann habe ich eigentlich diese Deutschlandflagge gekauft? Und diese Österreichflagge? Normalerweise habe ich mit Flaggen nichts am Hut.

Ich öffne meine Küchenschränke. Eine Kaffeetasse, die ich am Checkpoint Charlie gekauft hatte … Eine weitere, die mir die Mitglieder der Heinrich-Böll-Stiftung nach einer meiner Konferenzen dort geschenkt hatten.

An der Wand hängt meine Diplomurkunde des österreichischen Gymnasiums mit österreichisch-türkischen Flaggen.

Und ich bin verrückt nach Stiften. Überall sind Stifte. Manche von ihnen sind Erinnerungen aus Souvenir-Läden in Berlin, auf anderen sind Noten von Mozart abgebildet. Wieder andere sind von der WM 2006, auf weiteren sind Motive aus Goethes Heften. In meinem Schlafzimmer hängt ein Bild von Richard Wagner. Außerdem steht dort eine Matrjoschka-Puppe der deutschen Bundespräsidenten.

Die Uhr auf dem Buffet stellt sich automatisch nach den Signalen von Radio Frankfurt. Sie geht aber immer eine Stunde vor.

Meine Möbel entsprechen dem mitteleuropäischen Stil der 1960er und 1970er Jahre. Ich habe sie in Antiquitätenläden gekauft. Retro.

Also so lebe ich. Wie eine Reise durch Zeit und Ästhetik. Ich spaziere zwischen meinen zwei Häusern und Sprachen. Zwischen Türkisch und Deutsch …

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Wie ich den deutschen Sprachraum entdeckte https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/01/wie-ich-den-deutschen-sprachraum-entdeckte/ Mon, 01 Oct 2012 10:30:55 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=377 Im Sommer 1970 hatte ich die Aufnahmeprüfungen bestanden und wurde in eins der renommiertesten Gymnasien des Landes, und zwar in das österreichische Sankt Georgs Kolleg, aufgenommen, welches seit 1882 besteht. Damals war ich 11 Jahre alt. Doch eines konnte ich mit meiner kindlichen Vernunft schon begreifen: Die europäische Kultur, der sich die türkische Republik schon seit ihrer Gründung und davor zuwendet und von der sie ein Teil werden möchte oder vielleicht von Zeit zu Zeit bereits ein Teil geworden ist – in Form von einer Gegenidentifikation – diese europäische Kultur würde eine bedeutende Rolle in meinem Leben spielen. Und so geschah es auch.

Anfangs hatte das Land Österreich für mich verschiedene Bedeutungen: Es war das Land, in dem meine Lieblingsrockgruppen ihre Schallplatten gleichzeitig wie in den angelsächsischen Ländern auf den Markt brachten; das Land, in dem ich meine Lieblingsbücher oder Zeitschriften günstiger kaufen konnte; das Land, in das wir mit der Schule jedes Jahr in einem Bus fuhren und das wir nach 30-stündiger Fahrt erreichten und zwei Wochen lang eine schöne Zeit verbrachten – jedoch unter Aufsicht unserer Lehrer … Damals waren das Ausreisen aus der Türkei nicht so einfach. Also war das Land Österreich für uns Halbwüchsige, die es aus dem Land geschafft hatten, das wunderbare Land, in dem wir die Kosmetikbestellungen unserer Mütter erledigen konnten.

Zur gleichen Zeit begannen wir im Deutschunterricht mit unserem Lehrer Stephan Unterberger das Buch „Wesen und Werden der deutschen Dichtung“ zu lesen und ich begriff sehr schnell, wie wir über Sprache und Literatur ein Teil des gemeinsamen Menschheitsabenteuers wurden. Einerseits konnte ich mithilfe der deutschen Sprache sowie der deutschen Literatur mein Land mit Abstand und mit anderen Augen betrachten. Andererseits konnte ich dadurch sowohl die Unterschiede aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen Österreich und der Türkei, oder besser formuliert, zwischen dem deutschsprachigen Gebiet und der Türkei, sehen. Ich konnte mich beiden Gebieten mit Einfühlungsvermögen annähern. Auf diese Weise erhielt ich zwei Heimatländer. Wenn ich in dem einen lebte, vermisste ich das andere. Meine eine Heimat war die Türkei und die andere der deutsche Sprachraum. Ich nenne es den „deutschen Sprachraum“, denn der Lehrplan des österreichischen Sankt Georgs Kolleg kann einen Schüler genau so gut in den österreichischen wie auch in den deutschen Sprachraum integrieren.

Natürlich habe ich in der Schule ziemlich viel über Österreich und Deutschland erfahren. Meine Neugier hielt in den folgenden Jahren an. Und vielleicht habe ich den deutschen Sprachraum aus bester Quelle erlernt: aus der Literatur.

Thomas Bernhard gilt meine Liebe. Genau so wie Thomas Mann und Heinrich Mann. Bernhard beschrieb das gesellschaftliche Trauma, das nach der geografischen Verkleinerung des österreichischen Reiches auftauchte. Ich habe lange darüber nachgedacht. Nach Bernhards Anmerkungen habe ich das österreichische Theater, die Operette und die Oper besucht. Um eben dieses Trauma zu überwinden, wählte Österreich diesen Weg aus: Die aktuellen emotional-historischen Komplexe sollten auf der künstlerischen Bühne reproduziert und aufgeführt werden. Vielleicht ist auch aus diesem Grund die Wahl des Leitungsteams des Burgtheaters in Wien für das Volk genauso wichtig wie die Wahlen zum Präsidentenamt.

Das türkische Volk lebt mit demselben Trauma. Das Trauma des Herabsteigens von der Weltmacht hinunter auf die Dritte-Welt-Kategorie. Die unaufhörliche Spannung zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen. Aber man kann nicht mit Traumata weiterleben. Oder wie der Held meines neuen Romans es behauptet „Wir sind das, was wir aufgrund unserer Traumata geworden sind“. So hat die Türkei das Trauma des Herabsteigens von einer Weltmacht überstanden, indem sie in der Lage ist, eine ganze Straße, oder, wenn es sein müsste, ein ganzes Land sofort in eine Theaterbühne zu transformieren. Diese Fähigkeit der türkischen Republik hat sicherlich zu der Entstehung des soziologischen Phänomens, das ich Formalismus nenne, beigetragen.

In dieser Hinsicht ist Deutschland ein fruchtbares Land was seine Kultur, Kunst sowie Literatur angeht und meiner Meinung nach bodenständig. Trotz seiner besonderen Fähigkeiten von Form bis zur Funktion, sei es eine Maschine oder Architektur, konzentrierte sich das Land auf andere Inhalte. Es scheint, dass Deutschland ein Land ist, welches mit sich selbst in Frieden ist. Es ist ein Land, welches nach seiner Vergangenheit aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der daran anschließenden Konfrontation, also nach so einem Trauma, eine demokratische und pluralistische Weltsicht hervorbringen konnte. Dieser Fähigkeit verdankt es sein Wachstum. Deutschland ist ein Land, in dem gutes Theater auf die Bühne kommt und in dem Theater geschützt und gefördert wird.

Aber wie schon gesagt, ich bin in beiden Ländern zuhause. Sowohl in der Türkei als auch im deutschen Sprachraum. Zwar ist die jeweilige geografische Lage unterschiedlich, jedoch der jeweilige Platz in meinem Leben gleich.

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