Theater – Treffpunkt https://blogs.dw.com/treffpunkt Vier Kulturschaffende aus Deutschland und der Türkei schreiben über verschiedene Aspekte ihres kulturellen Umfelds Tue, 11 Dec 2012 09:23:30 +0000 de-DE hourly 1 Wie ich den deutschen Sprachraum entdeckte https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/10/01/wie-ich-den-deutschen-sprachraum-entdeckte/ Mon, 01 Oct 2012 10:30:55 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=377 Im Sommer 1970 hatte ich die Aufnahmeprüfungen bestanden und wurde in eins der renommiertesten Gymnasien des Landes, und zwar in das österreichische Sankt Georgs Kolleg, aufgenommen, welches seit 1882 besteht. Damals war ich 11 Jahre alt. Doch eines konnte ich mit meiner kindlichen Vernunft schon begreifen: Die europäische Kultur, der sich die türkische Republik schon seit ihrer Gründung und davor zuwendet und von der sie ein Teil werden möchte oder vielleicht von Zeit zu Zeit bereits ein Teil geworden ist – in Form von einer Gegenidentifikation – diese europäische Kultur würde eine bedeutende Rolle in meinem Leben spielen. Und so geschah es auch.

Anfangs hatte das Land Österreich für mich verschiedene Bedeutungen: Es war das Land, in dem meine Lieblingsrockgruppen ihre Schallplatten gleichzeitig wie in den angelsächsischen Ländern auf den Markt brachten; das Land, in dem ich meine Lieblingsbücher oder Zeitschriften günstiger kaufen konnte; das Land, in das wir mit der Schule jedes Jahr in einem Bus fuhren und das wir nach 30-stündiger Fahrt erreichten und zwei Wochen lang eine schöne Zeit verbrachten – jedoch unter Aufsicht unserer Lehrer … Damals waren das Ausreisen aus der Türkei nicht so einfach. Also war das Land Österreich für uns Halbwüchsige, die es aus dem Land geschafft hatten, das wunderbare Land, in dem wir die Kosmetikbestellungen unserer Mütter erledigen konnten.

Zur gleichen Zeit begannen wir im Deutschunterricht mit unserem Lehrer Stephan Unterberger das Buch „Wesen und Werden der deutschen Dichtung“ zu lesen und ich begriff sehr schnell, wie wir über Sprache und Literatur ein Teil des gemeinsamen Menschheitsabenteuers wurden. Einerseits konnte ich mithilfe der deutschen Sprache sowie der deutschen Literatur mein Land mit Abstand und mit anderen Augen betrachten. Andererseits konnte ich dadurch sowohl die Unterschiede aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen Österreich und der Türkei, oder besser formuliert, zwischen dem deutschsprachigen Gebiet und der Türkei, sehen. Ich konnte mich beiden Gebieten mit Einfühlungsvermögen annähern. Auf diese Weise erhielt ich zwei Heimatländer. Wenn ich in dem einen lebte, vermisste ich das andere. Meine eine Heimat war die Türkei und die andere der deutsche Sprachraum. Ich nenne es den „deutschen Sprachraum“, denn der Lehrplan des österreichischen Sankt Georgs Kolleg kann einen Schüler genau so gut in den österreichischen wie auch in den deutschen Sprachraum integrieren.

Natürlich habe ich in der Schule ziemlich viel über Österreich und Deutschland erfahren. Meine Neugier hielt in den folgenden Jahren an. Und vielleicht habe ich den deutschen Sprachraum aus bester Quelle erlernt: aus der Literatur.

Thomas Bernhard gilt meine Liebe. Genau so wie Thomas Mann und Heinrich Mann. Bernhard beschrieb das gesellschaftliche Trauma, das nach der geografischen Verkleinerung des österreichischen Reiches auftauchte. Ich habe lange darüber nachgedacht. Nach Bernhards Anmerkungen habe ich das österreichische Theater, die Operette und die Oper besucht. Um eben dieses Trauma zu überwinden, wählte Österreich diesen Weg aus: Die aktuellen emotional-historischen Komplexe sollten auf der künstlerischen Bühne reproduziert und aufgeführt werden. Vielleicht ist auch aus diesem Grund die Wahl des Leitungsteams des Burgtheaters in Wien für das Volk genauso wichtig wie die Wahlen zum Präsidentenamt.

Das türkische Volk lebt mit demselben Trauma. Das Trauma des Herabsteigens von der Weltmacht hinunter auf die Dritte-Welt-Kategorie. Die unaufhörliche Spannung zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen. Aber man kann nicht mit Traumata weiterleben. Oder wie der Held meines neuen Romans es behauptet „Wir sind das, was wir aufgrund unserer Traumata geworden sind“. So hat die Türkei das Trauma des Herabsteigens von einer Weltmacht überstanden, indem sie in der Lage ist, eine ganze Straße, oder, wenn es sein müsste, ein ganzes Land sofort in eine Theaterbühne zu transformieren. Diese Fähigkeit der türkischen Republik hat sicherlich zu der Entstehung des soziologischen Phänomens, das ich Formalismus nenne, beigetragen.

In dieser Hinsicht ist Deutschland ein fruchtbares Land was seine Kultur, Kunst sowie Literatur angeht und meiner Meinung nach bodenständig. Trotz seiner besonderen Fähigkeiten von Form bis zur Funktion, sei es eine Maschine oder Architektur, konzentrierte sich das Land auf andere Inhalte. Es scheint, dass Deutschland ein Land ist, welches mit sich selbst in Frieden ist. Es ist ein Land, welches nach seiner Vergangenheit aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der daran anschließenden Konfrontation, also nach so einem Trauma, eine demokratische und pluralistische Weltsicht hervorbringen konnte. Dieser Fähigkeit verdankt es sein Wachstum. Deutschland ist ein Land, in dem gutes Theater auf die Bühne kommt und in dem Theater geschützt und gefördert wird.

Aber wie schon gesagt, ich bin in beiden Ländern zuhause. Sowohl in der Türkei als auch im deutschen Sprachraum. Zwar ist die jeweilige geografische Lage unterschiedlich, jedoch der jeweilige Platz in meinem Leben gleich.

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Türken gehen nicht ins Theater https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/09/14/turken-gehen-nicht-ins-theater/ https://blogs.dw.com/treffpunkt/2012/09/14/turken-gehen-nicht-ins-theater/#comments Fri, 14 Sep 2012 11:01:54 +0000 http://blogs.dw.com/treffpunkt/?p=73 Ein Transparent über der Berliner Naunynstraße (Foto: Şirin Manolya Sak)

Die Naunynstraße ohne Türken ...

Türken gehen nicht ins Theater, weil sie bildungsfern sind und sich sowieso nicht für die deutsche Kultur interessieren. Und tatsächlich: Ob im Berliner Wintergarten, der Philharmonie oder der Deutschen Oper – kaum sitzt man auf seinem Platz und lässt den Blick durch die Publikumsreihen schweifen, fällt immer wieder Eines auf: Es sind so gut wie keine Deutschtürken da. Ein bestätigtes Vorurteil?

Nein, denn im Ballhaus Naunynstraße bietet sich seit einigen Jahren ein ganz anderes Bild: In dem Off-Theater in Berlin-Kreuzberg tüfteln Hakan, Neco und Shermin regelmäßig an neuen Stücken. Hier ist es normal, dass Burak, Emel und José neben Lisa und ihrer Mutter Momo sitzen und gemeinsam die Uraufführung der Reihe „Vibrationshintergrund“ beklatschen. Doch was ist im Ballhaus Naunynstraße anders als in anderen Theatern?

Liegt der Erfolg des kleinen Hauses an der Lage im so genannten „Little Istanbul“ in Berlin-Kreuzberg?

Kulturelles Interesse wecken

Das Off-Theater war allerdings nicht immer in aller Munde und so scheint es, als würden für den Erfolg des Hauses andere Faktoren eine Rolle spielen. Das kulturelle Interesse von Menschen zu wecken ist keine Frage der Herkunft weiß Shermin Langhoff, die hinter der Erfolgsgeschichte des Kreuzbergers Ballhaus Naunynstraße steht. Sie war diejenige, die das postmigrantische Theater 2008 am Szene-Theater in Berlin gründete und dafür weit über die Landesgrenzen hinaus auf sich aufmerksam machte.

Für die Theatermacherin steht am Anfang der schleppenden interkulturellen Öffnung an Theatern, die wenig durchdachte Verteilung der Mittel: „Interkulturalität an Theatern beginnt mit ‚PPP‘ – Personal, Programm und Publikum. Alles hängt zusammen. Dort, wo die finanziellen Ressourcen für das Personal gering sind, wird der Zugang von Menschen mit biografischer Interkulturalität und Interreligiosität verlangsamt.“ Das künstlerische Programm wiederum hänge von dem Personal an einem Haus ab, sagt Langhoff. Das Angebot eines Theaters entspringe schließlich aus dem geistigen Gut des Personals und sowohl die Leitung als auch die Dramaturgie müsse echtes Interesse an innovativen Stücken haben. Dem entsprechend müsse die Akquise des Hauses aussehen, fährt sie fort.

Der Zugewinn an interkulturellem Publikum komme dann, laut Langhoff, ganz von alleine: „Es hat nicht unbedingt etwas mit den gleichen ethnischen Wurzeln zu tun, wenn sich der Zuschauer mit der Geschichte oder der Figur in einem Stück identifizieren will. Es geht dabei eher um ähnliche Perspektiven und der Wahrnehmung und Reflektion der eigenen Lebenswelt.“

Vielfalt auf und hinter den Bühnen

Shermin Langhoff, die ihre Arbeit als Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin ab der Spielzeit 2013/14 aufnimmt, spricht sich öffentlich immer wieder für die Förderung von Kunst von und mit Migranten aus. Dabei geht es ihr nicht nur um die Förderung der freien Szene, ganz im Gegenteil – Langhoffs Visionen einer bunten Kulturlandschaft machen nicht vor großen Häusern halt. Sie erhofft sich mehr Vielfalt auf und hinter den Bühnen von Staatstheatern und –opern.

In diesem Zusammenhang erwähnt Langhoff anerkennend die Arbeit ihrer jüdischstämmigen Kollegin an der Berliner Philharmonie, Pamela Rosenberg, die die Reihe „Alla turca“ initiierte. Auch Jürgen Flimm an der Staatsoper hätte ernsthafte Neugier an neuen Wegen in der künstlerischen Darbietung gezeigt und bereits mit Neco Çelik an einer Operette gearbeitet. Gemeinsam mit 22 Jugendlichen brachte der türkeistämmige Film- und Theaterregisseur „Moskau Tscherjomuschki“ von Dmitri Schostakowitsch an die Staatsoper.

„Man kann sich nur wünschen, dass mehr Intendanten wie die geschätzten Kollegen Rosenberg und Flimm an dem Thema festhalten. Dafür ist es allerhöchste Zeit, denn meiner Meinung nach hätte man das postmigrantische Theater auch schon 20 Jahre vor mir machen können. Heute ist das Interesse so groß, dass es fast schon grotesk erscheint: „Vor Kurzem haben sich einige Häuser um die wenigen Künstler migantischer Herkunft gestritten“, erinnert sich Langhoff.

Nachwuchsförderung in der Szene

Besonders die Nachhaltigkeit in der kulturellen Arbeit liegt Langhoff am Herzen und sieht darin auch ihren persönlichen Erfolg. „Mir war es immer wichtig, den Nachwuchs in der Szene zu fördern und somit ganz neue Texte in ganz neuen Stücken zu ermöglichen. Mit tollen Nachwuchskünstlern, wie Hakan Savaş Mican, haben wir erfolgreich inszeniert und einen Grundstein für weitere Schritte gelegt.“

Für Langhoff geht die interkulturelle Arbeit in der Berliner Theaterszene weiter und durch ihr Beispiel wird klar, welchen kulturellen Zugang Theaterstücke von und mit Migranten schaffen. Ganz unabhängig von ethnischer Herkunft, kulturellem Vorinteresse und Schulabschluss der Eltern, kann man Berliner Türken in die Loge locken. Das Vorurteil „Türken gehen nicht ins Theater“ stimmt also nicht. Türken gehen eben nur noch nicht in jedes Theater …

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